Aktuelle Ausgabe

Bild: Christian Lue, Marburg über unsplash.com
Die Solidarität ist zurück – auf den Straßen, in gesellschaftlichen Salons wie politischen Reden und auch in theoretischen Debatten. Nach Jahrzehnten der Dominanz des neoliberalen Paradigmas der Privatisierung und durchgreifenden Modernisierung ist die Renaissance des Solidaritätsbegriffs für die einen überraschend und die anderen nur folgerichtig. Wieder andere dagegen diagnostizieren einen erhöhten Druck, aus Solidarität mit einer überforderten Gesellschaft eigenverantwortlich zu handeln – und damit eine neue Variante des Neoliberalismus. Insbesondere die Diagnose einer verfestigten Situation multipler, sich überlagernder Krisen lässt den Rückgriff auf Solidarität zunächst plausibel erscheinen. Ob die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg und seine (welt-)wirtschaftlichen und politischen Folgen, die ökologische Katastrophe, die prekäre Lage von Flüchtlingen und Migrant:innen oder auch das Aufbrechen neuer Polarisierungsthemen: Solidarität scheint ein ewiger Jungbrunnen zu sein, wenn es darum geht, eine gemeinsame (Not-)Lage zu adressieren sowie für deren Überwindung die Kraft des Zusammenhalts und damit auch die Einsatzbereitschaft der einzelnen zu mobilisieren.
Allerdings fällt auf, dass Solidarität nicht einfach in ihren klassischen Gestalten als Movens gewerkschaftlicher Bewegung und als in wohlfahrtsstaatlichen Institutionen realisiertes Sozialprinzip wiederkehrt. Gerade zeitgenössische Debatten über Solidarität betonen deren umstrittenen, umkämpften, ambivalenten Charakter: Wie weit reicht Solidarität angesichts der fortschreitenden Zerstörung der planetaren Lebensgrundlagen? Wen schließt sie unter dem Eindruck fortdauernder kolonialer und patriarchaler Verhältnisse ein und wen aus? Von wem werden welche solidarischen Anstrengungen verlangt – zu wessen Vorteil? Wer hat Zugang zu solidarischen Institutionen, soll diese stützen und profitiert von ihnen? Inwiefern werden also Solidarisierungen von Desolidarisierungen begleitet und handelt es sich dabei um unumgängliche Prozesse? Entgegen einer offenbar vorhandenen intuitiven Plausibilität in gesellschaftlichen Zusammenhängen bedarf der Begriff der Solidarität heute einer Konturierung, die sich auch anderen als den bekannten Formen und Strukturen der Solidarität zuwendet.
Somit legt sich nahe, vor allem das Verhältnis von Praktiken und Institutionen der Solidarität zu fokussieren und dabei mit einer besonderen Sensibilität für Kontexte, In-/Exklusionen und soziale (Macht-)Verhältnisse vorzugehen. Ein gegenwartstaugliches Verständnis von Solidarität lässt sich nur über eine Vielfalt an Perspektiven und Kontexten sowie im Verhältnis zu anderen Schlüsselbegriffen und Grundkategorien erarbeiten. Die Diskussion knüpft dabei an eine lange Tradition der Auseinandersetzung mit dem Solidaritätsthema in politischen Theologien und in der Christlichen Sozialethik an. Diese gilt es, vor dem Hintergrund der aktuellen Krisenlagen fortzuschreiben, zu aktualisieren oder auch neu zu justieren. Hierzu soll diese Ausgabe einen Beitrag leisten.
Redaktion: Michelle Becka, Bernhard Emunds, Josef M. Könning, Walter Lesch
Im Rezensionsteil geht es – vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs – um Perspektiven theologischer Friedensethik. Es geht aber auch um theologische Rassismuskritik in den USA (Niebuhr), um die Gottesfrage in einer Welt der Gewalt und nicht zuletzt auch um die Gefahren einer mangelnden Resistenz von Kirche und Christentum ›gegen rechts‹.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Selbstverständnis heutiger Arbeitssoziologie, der Frage nach Eigentumsrechten der Natur, nach alten und neuen Definitionen von ›Wohlstand‹ und nach dem Stellenwert von Kinderrechten in der Corona-Pandemie.
Zudem finden sich Rezensionen zu den neuen Büchern von Judith Butler, Onur Erdur, Rahel Jaeggi und Daniel Loick. Hinzu kommen schließlich Besprechungen zu einem Sammelband über das Spätwerk von Jürgen Habermas – und zu einer Promotion, die sich mit der Frage beschäftigt, ob man mit Hannah Arendt und Theodor W. Adorno ›die Welt verändern‹ kann.
Redaktion: Tim Eckes und Hermann-Josef Große Kracht